Mittwoch, 20. Oktober 2010

Nachtwache

"Darf ich Dir Cassiopeia vorstellen", frage Agnes. "Ja gerne", sagte ich und folgte ihrem ausgestreckten Arm Richtung nördliche Himmelshemisphäre. "Sie sieht aus wie ein W.", sagte die Sternenkundige. Tatsächlich: ein "W", allerdings eines, das nicht mit beiden Füssen auf dem Boden steht, sondern einen Handstand macht, und zwar auf einem Arm, was sonst nur nordkoreanische Zirkusartisten können.

Von der Cassiopeia ging es nun weiter zu Orion - mit Schwert, dann zum Schwan, mit seinen Flügelchen und dem kleinen Kopf - da muss einer erst mal drauf kommen, dachte ich. Auch der Grosse Wagen war da, wie immer, dessen Deichsel mir schon als Kind überdimensioniert vorgekommen ist.

Es war nun 20 Uhr geworden und wir vereinbarten, beim Wachwechsel wieder in die Sterne zu gucken. Agnes ging schlafen und ich spintisierte weiter am Thema Sterne. Es gibt ja sonst nichts zu tun auf der Wache, wenn alles gut läuft. Mir kam in den Sinn, ob es wohl mal ein Sternbilder-App fürs iPhone geben würde, mit GPS und Himmelskoordinaten Ich dachte dann, dass eher nein; denn rund um die Sternbilder gibt es keine Moden, keine Aktualität, die Sternbilder entziehen sich dem irdischem Wandel trotz ihrer allnächtlichen Präsenz. Kein König und kein Diktator in Piong Yang hat es je gewagt, in seinem Herrschaftsbereich das Umtaufen der Sternbilder zu verlangen. Und deshalb ist aus dem Orion mit seinem Schwert nie "Unser lieber Führer" geworden. Auch gibt es keinen "Rolex-Stern" und keinen "Fedex-Planeten". Branding, Sponsoring, das alles passt nicht an den Nachthimmel, einer der letzten nicht-kommerzialisieren Räume.

Um Mitternacht kam Agnes wieder aus der Koje ins Cockpit für ihre Wache, doch das neuerliche Sternengucken fiel aus, weil inzwischen der Grosse Regisseur einen weissen Zirrenvorhang vor seine Sternbilder gezogen hatte.

Als ich um 3 Uhr für meine zweite Wache aufwachte, spürte ich an der Bewegung des Bootes, dass wir noch immer guten Wind hatten. Ich kriegte einen Tee und Agnes legte sich wieder schlafen. Um 6 Uhr, am Ende meiner neuen Wache, machte ich einen Logbuch-Eintrag und sah, dass es noch 81 Meilen wären bis zum Ziel in Porto Santo.

1 Kommentar:

  1. Liebe Gruesse aus Deutschland von Anke und Reiner,

    Prima, dass Ihr auch Zeit für Romantik findet!
    Immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel für Euch und gute Fahrt! Wir verfolgen den "Spot" fast jeden Tag.

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