Montag, 23. August 2010

Pilgerreise

Wer mit dem Bus nach Santiago de Compostela reist, sieht als erstes ein modernes Klinikum, eine Kathedrale des Gesundheitswesens sozusagen, gebaut im Stil der amerikanischen Hilton-Hotels. Der Bus führt dann dem Stadthügel entlang. Und erst als wir denken, er verlasse Santiago bereits wieder, kriecht er den Hügel hoch, wo sich auf halber Höhe der Busbahnhof befindet.

Ich hatte mir Santiago als beschaulichen Wallfahrtsort vorgestellt und muss nun erkennen, dass wir in einer Stadt mit knapp 100 000 Einwohnern angekommen sind. Von einer Kathedrale ist partout nichts zu sehen. Und so stellt sich bei der Annäherung an die berühmte Pilgerstätte auch kein Gefühl von Ergriffenheit oder Demut ein.

Nach ein paar Irrungen und Wirrungen finden wir dann den letzten Kilometer des Jakobswegs (oder der Jakobswege, denn es gibt viele in ganz Europa) ; der Weg führt durch eine gepflästerte Altstadtgasse, wo sich Touristenläden und auch ein Döner niedergelassen haben. Hin und wieder sieht man nun die Türme, fast auf Augenhöhe, da sich die Kathedrale offensichtlich nicht auf der Spitze des Stadthügels befindet, sondern etwas unterhalb.

Und in der Tat: Ganz am Schluss zweigt man von der Gasse ab, geht einen Weg leicht bergab und durch einen tunnelartigen Torbogen hindurch. Wie man aus dem Tor tritt, kommt ein riesiger Platz in Sicht. Und nun stelle ich überrascht fest, dass ich die Kathedrale bereits passiert habe. Erst wie ich über die linke Schulter zur Seite blicke, sehe ich das verschnörkelte Ungetüm schräg hinter mir. Eine verpasste Ankunft sozusagen.

An der Kathedrale haben sich – ganz im Gegensatz zum Klinikum – unzählige Steinmetzen während Jahrhunderten ausgetobt. Die Schönheit erschliesst sich nicht beim Anblick des ganzen, das schwer und überladen wirkt, sondern im Detail, den in Stein gehauenen, wunderschönen Gestalten und Gesichtern an den Fassaden.

Hunderte Touristen halten sich in der Mittagssonne auf dem Platz auf und versuchen, aus kurzer Distanz sich selbst plus die Kathedrale auf ihre Digikameras zu kriegen. Die Pilgerinnen und Pilger, die den Weg gewandert sind, finden wir erst in einer Seitengasse. Dort stehen sie an, um ihr Gepäck in einem zentralen Gepäckraum abzugeben. Etwa 300 Wanderinnen und Wanderer sind es, die ihr Ziel erreicht haben, die meisten müssen so um die 30- bis 40jährig sein. Sie werden nach der Gepäckabgabe noch einmal stundenlang anstehen müssen, weil die Besucher nur durch das Nadelöhr einer Sicherheitskontrolle in die Kathedrale eingelassen werden.

Wir haben keine Lust auf Anstehen und besuchen statt der Kathedrale das moderne Pilgermuseum, wo ein Künstler eine Installation zeigt, die den Usern von Googles Streetview merkwürdig bekannt vorkommt: Der Videoartist hat 5000 km des Jakobswegs erwandert und alle 11 Sekunden mit einer Kamera ein Bild ausgelöst und daraus dann eine Installation auf mehreren Videowänden zusammen gestellt. Es ist eine un-beschauliche Reise im Zeitraffer, die den Besucher mitten durch europäische Einfamilienhaussiedlungen, auf Waldwegen und entlang von Autostrassen genau dorthin führt, wo er sich befindet: nach Santiago.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen